Haiti. Was fällt einem dazu ein? Vielleicht
Palmen, Sonne, Karibik, Strände? So war jedenfalls mein Eindruck, wenn ich
Leuten von meiner anstehenden Reise erzählte. Aus dem Kopf waren alle
schrecklichen Bilder des Erdbebens
vor mehr als zwei Jahren, um genau zu sein am 12. Januar 2010. Vergessen
die Zeltlager, die Nachrichten über Massengräber, eingestürzte Häuser, völlig
zerstörte Stadtteile und schlechte Hygiene Bedingungen. Vergessen die
Hilferufe. Vergessen all das Leid. Ja, das ist wohl allzu menschlich, besonders
in Zeiten, wo eine Katastrophe der nächsten die Klinke in die Hand gibt.
Mal kurz zusammengefasst: Ein Erdbeben von
einer Stärke von 7,6 ca. 30 Sekunden, lässt Haiti in der Verwüstung zurück.
250.000 – 300.000 Menschen kamen dabei ums Leben (aber das kann keiner genau
sagen, wer hat hier schon einen Pass???), 1,5 Millionen Menschen waren danach
obdachlos. Danach starben nochmals tausende Menschen an Cholera, weil die
Hygiene Bedingungen in den improvisierten Lagern so schlecht war.
Hier in Haiti hat niemand irgendwas
vergessen, wie auch, denn alles erinnert noch immer daran. Die aufgerissenen Strassen, die
Schutthaufen, die aufklaffenden Häuser und die leider immer noch zu findenden
Camps.
Ich bin Gast von CARE, die nicht erst seit dem Erdbeben hier
arbeiten, sondern schon seit 1954. Haiti war und ist ein Entwicklungsland. Und
eins weiß ich jetzt: Um die Umstände in Haiti verstehen zu können, muss man weiter
zurückgehen in der Zeit, als nur bis zum Erdbeben. Wer Haiti verstehen möchte,
muss seine Geschichte verstehen.
Die Arbeit einer Hilfsorganisation, so kann
man es vereinfacht sagen, gliedert sich in zwei Felder auf: Nothilfe, also das
retten der Leben und die direkte Hilfe nach einer Katastrophe und langfristige
Entwicklungsarbeit.
Zweites ist nicht so sexy. Weder für die
Spendenaufrufe noch für die Medien.
Aber es ist wichtig. Die Bilder dieses Erdbebens waren erschütternd und
die Spendenbereitschaft war groß, aber was passiert danach? Interessiert es die Menschen hier noch,
ob die Leute dort einen Brunnen haben, Zugang zu fließendem Wasser? Das sie
immer noch in Camps leben? Aber darum geht es doch und das weiß CARE; es geht
darum, den Leuten eine langfristige Verbesserung ihrer Lebensumstände zu
bieten. Und zwar nicht in dem man ihnen irgendwas aufs Augen drückt, was so keinen Sinn macht, sondern durch die
Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern Vorort und durch die Gespräche mit den
Einwohnern, rauszufinden, wo es wirklich brennt – ja, was wirklich gebraucht
wird. Bei CARE (Wie auch bei anderen Organisationen) arbeiten zum größten Teil
Leute aus dem jeweiligen Land was die Arbeit einfacher und definitiv
erfolgreicher gestaltet.
CARE und auch alle anderen NGO’s haben ein
Ziel: Stabile Lebensbedingungen. Unabhängigkeit eines Landes. Hilfe zur
Selbsthilfe.
Aber wir stellen uns das alles ein bisschen
einfach vor. Zumindest ging es mir so. Zum Beispiel kamen mir Fragen wie ,Warum
bauen die Übergangshäuser und keine Richtigen’? Von der Ferne betrachtet mag
das schwer verständlich sein. Jetzt kann ich diese Fragen beantworten und tue
dies hier in Schriftform später noch einmal genauer und hoffe, dass auch die
Videoblogs Aufschluss geben.
Erster Tag. 10.04.2012
Die Ankunft
Im CARE Büro ein warmes Bonjour. Sabine Wilke, Mitarbeiterin
von CARE, die nach dem Beben ein halbes Jahr in Haiti gearbeitet & gelebt
hat und mit mir diese Reise antritt, ist glücklich viele bekannte Gesichter
wieder zusehen.
Man mag es kaum glauben, aber zwischen all den zerfallenen
Häusern befinden sich kleine hübsche Restaurants, wo man Cola Light bekommt und
Sandwiches, zur Freude aller – also der Expats, denn hier sitzen keine
Haitianer, es sei denn sie arbeiten für eine der NGO’S... Dort sitzend, bekommen wir von den
Kollegen vor Ort unsere nächsten strammen Tage erklärt: Kleinspargruppen & Übergangshäuser
ansehen, Camps die sich im Aufbruch befinden anschauen, Schulen besuchen,
Wasserversorgungssysteme und vieles mehr. Aber dazu mehr, in den kommenden
Tagen!
Dann folgen die Sicherheitsauflagen. Man kann hier nicht
einfach so herum spazieren. Denn es ist hier nach wie vor nicht ungefährlich.
Immer wieder hört man von Entführungen und Überfällen, nicht schwer
nachvollziehbar bei den Lebensbedingungen. Aber man muss auch sagen, dass es in
den Medien immer aufgebauscht wird. Dennoch bin ich hier Gast von CARE und wir
alle halten uns an diese Regeln. Die da heißen: Beim Auto fahren durch Port au
Prince (die Hauptstadt), immer von innen die Türen verriegeln, nicht auf den
Strassen herum laufen und ab 22.30 muss man im Hotel sein. Wenn der Begleiter
auf den Reisen sagt, ‚es ist Zeit zu gehen’ wird aufgebrochen und zwar ohne Diskussion. (Habe ich aber
nie erlebt)
Aber ich fühle mich hier sehr sicher, auch wenn uns Khassim,
unser Fahrer mit der Ruhe und Sicherheit eines geschulten Guides über die
hügeligen und zerrissenen Strassen fährt.
Und mein erster
Eindruck von Port au Prince?
Es ist ein wahnsinniges Gewusel, überall Ecken mit Geröll,
eingestürzte Häuser. Es erinnert an den zweiten Weltkrieg. Durch die Straßenführung
würde ich wahrscheinlich auch nach Jahren nicht durchblicken, also das was man
hier Strassen nennt. Ich habe in ganz Port au Prince eine einzige Ampel gesehen
(an der im übrigen keiner hält) und die Strassen sind voll mit TapTaps, das
sind die öffentlichen Transport Mittel, Jeeps – oft von den Organisationen –
die man hier stark vertreten sieht. Auf den Strasse Kühe, Schweine, Hunde und
Hühner. Die Haitianer, die alles auf dem Kopf tragen. Um sich im Verkehr zu
verständigen wird hier gehupt. Blinken? Was ist das? Hupen geht doch auch! J Aber
es klappt, und auch wenn alle an einer Kreuzung gleichzeitig losfahren, kommen
alle dort an, wo sie hin wollen.
Die Haitianer sind ein offenes Volk und sie finden oft einen
Grund zum Lachen. Sie verbergen ihr Trauma tief hinter ihren Augen und wenn ihr
lächeln erstirbt, sind ihre Gesichter oft von Trauer gezeichnet. Von Leere, von
einem tiefen Schreck. Aber man kämpft hier jeden Tag ums Überleben, da bleibt
keine Zeit sich mit sentimentalem Trauern zu beschäftigen. Bereits am ersten
Tag höre ich folgenden Satz immer und immer wieder: ‚Die größte Angst die wir
haben, ist die vor einem weiteren Beben’.
Carrefour - CARE/Evelyn Hockstein
Die Angst ist nicht unberechtigt. Den vor der Küste Haitis
klaffen die beiden Erdspalten aufeinander. Wenn man Menschen nach dem Beben fragt, erzählen sie
manchmal ihr Geschichte, so zum Beispiel Tim ein Mitarbeiten von CARE, der uns
heute ein bisschen was berichtet hat. Er war damals im Supermarkt als dieser über
seinem Kopf zusammen fiel. Er war so traumatisiert als er sich aus den Trümmern
befreite, lief raus und wie durch ein Wunder, war sein Wagen vor der Tür der
einzige nicht zerstörte.
‚Das Beben klang wie ein Schrei aus der Erde’, erinnert er
sich.
Während ich das hier schreibe dröhnt laute
kreolische Tanzmusik aus dem Club neben an. So viele Eindrücke an einem
einzigen Tag...
Freitag, 4. Mai 2012
Zweiter Tag. 11. April 2012
Auf dem Weg nach Léogâne.
Sechs Uhr. Die
Sonne geht auf und wir sitzen im Auto. Die Strassen voll. Wir sind auf dem Weg
nach Léogâne. In Léogâne war das Epizentrum des Bebens und hier stand wirklich
gar nichts mehr.
Wir fahren dort knapp 1,5 Std. hin. Das gibt mir Zeit ein
wenig mehr von Port au Prince und den ganzen Stadteilen zu sehen. Es ist
wirklich erschütternd. Ich weiß nicht ob man sich die Bilder vorstellen kann,
wenn man nicht, wie ich gerade, genau dran vorbei fährt.
Als ich damals das Projekt für CARE Haiti ins Leben gerufen
hatte, so erinnere ich mich, das ich die Bilder in den Nachrichten als abstrakt
empfand, das ich mir das Ausmaß dessen nicht wirklich vorstellen oder aufnehmen
konnte. Das sich etwas innerlich vor all dem schützen wollte. Das ändert sich
sobald man an den eingestürzten Häusern vorbei fährt. Den Schutthäusern, dem
Nichts. An den Menschen die mitten im Dreck und neben Bergen von Abfall ihre
Mangos auf dem Boden verkaufen. Das ändert sich, wenn man die Camps sieht und
den Schmutz und die Menschen die ums Überleben kämpfen. Mein europäisches Auge,
versucht eine Ordnung zu begreifen, ein System im Chaos zu erkennen. Aber es
gibt keines für mich. Es IST Chaos.
Ein erster Besuch in
der Schule.
Die Schulen sind für mich ganz besonders spannend zu sehen,
weil wir damals entschlossen hatten, den Erlös
des Hörbuchs in das Bildungsprojekt von CARE Haiti zu geben.
Man spricht bei NGO’S immer von Projekten. Kurz erklärt:
Also es gibt Hygiene Programme/Projekte, Wasser Projekte, Bildungsprojekte,
Gesundheitsprojekte, Bauprojekte und vieles mehr.
CARE hat hier in Léogâne wirklich schon viel geleistet und
egal wo wir hinkommen, die Menschen sind von tiefer Dankbarkeit. Es ist alles
sehr berührend. In der ersten Schule ‚Pyramide’ werden wir mit einem warmen
Ständchen empfangen. 11 Jungs und 12 Mädchen halten sich an den Händen und
singen. Ich habe den Eindruck sie sind genauso aufgeregt wie ich, über diesen
Besuch. Die haben den Morgen schon auf uns gewartet. Besuch ist hier immer was
ganz besonderes! Wie ich später raus finde, singen hier alle immer gerne und
egal wo wir hinkommen– gesungen wurde immer.
CARE/Evelyn Hockstein
Die Schule, das sieht man gleich, ist schwer beschädigt
worden. Sie war ganz offensichtlich mal zweistöckig, jetzt sind davon nur noch Reste zu sehen. Die Distanz
zwischen den Kindern und uns ist groß, mit neugierigen Augen taxieren wir einander
ab. Aber nach einer Weile taut die Stimmung auf. Wir sind in der Klasse sechs, ein Raum, klein und ohne
Fenster. Neue Holzbänke die von CARE kommen. Die Kinder sehen so süß aus, alle
in ihren Schuluniformen und die Mädchen mit Schleifchen in den Haaren.
Egal wen ich gefragt habe: Sie lieben Schule. Sie sind stolz
zur Schule zu gehen. Sie sind glücklich, wenn sie die Möglichkeit dazu haben.
Ungefähr 40% der Haitianer sind Analphabeten und viele können sich überhaupt
keine Bildung leisten.
Irgendwann fragen die Kinder uns auch Sachen. ‚Wo ist Gary
Victor?’ (Der sollte nämlich heute hier ein bisschen vorlesen, ist privat
verhindert gewesen und trifft die Kinder nun ein andermal) ‚Wer ist CARE?’ Und ein Junge in der
letzten Reihe meldet sich zu Wort und stellt eine so entwaffnende Frage, die
uns allen Sprache verschlägt: ‚Warum kommen immer alle nach Haiti um uns zu
helfen, aber warum gehen wir nie woanders hin um dort zu helfen?’ ....
Herrgott, was soll man denn da antworten? Die Antwort ist komplex. Ist die
Frage überhaupt zu beantworten? Ich denke so im Stillen, vielleicht sollten die Haitianer mal nach
Deutschland kommen und Entwicklungshilfe und Projekte zum Thema ‚karibischer
Ruhe und Gelassenheit’ führen. Denn davon könnten wir uns alle eine Scheibe abschneiden.
Später unterhalte ich mich noch alleine mit ein paar
Schülern. Ich frage Sie ein bisschen zu ihrem Leben und nach einer Weile wird
es immer einfacher. Ich habe heute noch Berührungsangst. Was darf ich fragen?
Wie gehe ich mit Ihnen um? Dann ist es auch immer schwierig, weil ich kaum
Französisch spreche und die Kinder nur Creole. Heißt also: Ich stelle die Frage
auf Deutsch, sie wird von Frederic Haupert – CARE Mitarbeiter aus Luxemburg ins
Französische übersetzt und dann weiter ins Creole... Aber irgendwie geht das
alles.
Sie wollen später mal Pilot werden, Krankenschwester oder
Anwältin. Sie wollen alle gut in der Schule sein, machen alle ihre Hausaufgaben
und erzählen mir von ihren Schulwegen. Ein Mädchen geht morgens um 5.30 Uhr zu
Hause los, zwei Stunden zu
Fuß und erreicht um 7.30 Uhr die
Schule. Kann man sich das wirklich vorstellen? Und wir reden hier nicht von
schönen und ungefährlichen Strassen. Sie erzählen das sie immer noch große
Angst haben das ein neues Beben kommen wird, das sie Angst in Räumen haben mit
Dächern. Sie denken, sagen sie, jeden Tag an das Beben. Viele Kinder sind sehr
traumatisiert, eingeschüchtert und in sich gekehrt. Eins der Mädchen sagt mir,
das ihr Bruder gestorben ist beim Erdbeben. Das einzige was mir in meiner Hilflosigkeit einfällt, ist
ihr zusagen wie sehr es mir leid tut.
CARE/Evelyn Hockstein
Latrinen und
Waschplätze: Nicht sexy ABER wichtig!
Ich sehe aber noch was Spannendes. Unter anderem in den
beiden Schulen gab es vorher keine Toiletten und Waschräume. Das ganze gehört
zum großen Projekt - WASH. Das steht für Water, Sanitation and Hygiene. Es gab
ein Loch im Boden und da haben alle reingemacht. Das Loch war offen und es gab
keine Wände. Im Übrigen lagen die ‚Toilettenlöcher’ direkt vor den Klassenräumen.
CARE hat Latrinen und Waschplätze gebaut und Nathalie und Eususe Mitarbeiterin
von CARE, machen mit den Kindern die hygienische Aufklärung in den Schulen. Das heißt, dass sie den
Kids erklären, das man nach dem Toilettengang sein Hände mit Seife wäscht. Wie
man generell mit Seife umgeht. Die Kinder hier kennen das wirklich nicht. Hier gibt es wenig Wasser, weil es kaum
Brunnen bisher gab, das heißt eine Familie hat sehr wenig Wasser zu Verfügung
gehabt und da bleibt sicher nichts für das Hände waschen übrig. So entstehen
auch Cholera und andere Krankheiten, die hier nach wie vor sehr verbreitet
sind. Das ändert sich nach und nach. Die Kinder lernen es und bringen dieses
Wissen nach Hause und fordern von Ihren Eltern ein, das sie auch dort Seife haben
und sauberes Wasser. Die Bildung und Aufklärung läuft also über die Kinder. Die
Schule ist sehr stolz über diese Entwicklung. Man hilft den Leuten ja letztlich nur, wenn sie lernen sich
selbst zu helfen.
Die neuen Latrinen in der Schule - CARE/Evelyn Hockstein
Die Kinder an ihrem Waschplatz - CARE/Evelyn Hockstein
Die Kinder an ihrem Waschplatz - CARE/Evelyn Hockstein
Die zweite Schule
ist eine private, die durch eine Eltern Initiative vor vielen Jahren gegründet
wurde. Wir sind zu spät und die Kids haben auf uns gewartet. ‚Die Bienen von
Aspam’ - L’abeilles d’Aspam sind viele aufgeweckte Kindern, die auch wieder für
uns singen. Man singt hier! Das gefällt mir! Mittlerweile ist es sehr sonnig
und heiß geworden.
CARE/Evelyn Hockstein
Sie spielen gerne an ihrem neuen Brunnen, denn um sich die
Hände zu waschen, muss ein Kind pumpen und ein anderes kann sich derweil die
Hände waschen. Auch da spreche ich noch mal mit ein paar der Kids und sie laden
mich in ihre Klasse ein. Wir lachen viel und auch hier wird mir ein Ständchen
gesungen. Toll diese Bienchen!
CARE/Evelyn Hockstein
Die Wasserversorgung
in Léogâne
In Léogâne haben bis vor kurzem fast alle Familien ohne
fließendes Wasser gelebt. Der nächste Brunnen oft mehrere Stunden Fußmarsch
entfernt. Obwohl in Haiti viel Grundwasser besteht und das nicht mal tief im
Boden liegt, gab es keine Möglichkeiten für die Leute. Weder das Wissen, noch
das Werkzeug.
Die Mitarbeiterin von CARE, Melora zeigt und die
‚Wasserprojekte’ (WASH Programmes) die sie in der Region zahlreich ins Leben
gerufen haben. Es wurden Brunnen gebaut, die nun mehr als 500 Familien
permanent mit Wasser versorgen. Während wir uns, die Brunnen, Latrinen und
Waschplätze anschauen, treffen wir auf eine Gruppe Frauen, die sich hier im Ort
um die Aufklärung in kleinen Gruppen treffen und unter einander darum kümmern.
Das ist hier eine große Sache und CARE hat mit den Frauen aus der den Gemeinden
in Léogâne Clubs gegründet. Hier haben sich Gemeinden gebildet von Müttern, die
hier von der Vorsitzenden der „Mutterclubs“ in wöchentlichen Treffen informiert
werden, über Hygiene Maßnahmen. Auch kleine Hygiene Kits werden verteilt. Ein
Ort, wo die Mütter sich austauschen können. Klingt vielleicht nicht nach einer
großen Sache für uns - ist es hier aber schon!
Die CARE Mitarbeiter in den „Frauen und Mütterclubs“ sind
Haitianerinnen, also Landsleute die in ihrer Kultur tief verwurzelt sind und
die auch ihre Problematiken kennen. Ich habe den Eindruck, dass es dadurch ein
Erfolgsversprechendes Model ist die Menschen in Gruppen zur Selbsthilfe
anzuleiten.
Die Kinder und Frauen waschen sich am Brunnen - CARE/Evelyn Hockstein
Eine Mutter erklärt ihrer Tochter wie sie sich richtig die Hände wäscht. CARE/Evelyn Hockstein
Die Kinder lieben ihren neuen Brunnen - CARE/Evelyn Hockstein
Mutterclubs
Die ganzen ‚Clubs’ die sich hier organisch mit CARE’s Hilfe
gebildet haben, bestechen dadurch, dass es die Menschen hier wieder
selbstständig macht, dass sie sich selber informieren können und ihr Wissen
auch weitergeben. Eususe – Mitarbeiterin von CARE ist mit uns hier und erklärt
uns die verschiedenen Aktivitäten der Clubs.
Rund 40 Mütter und Frauen in der Gemeinde, treffen sich
einmal in der Woche und lernen, wie sie sich am besten versorgen können und wie
sie sich und Ihre Kinder schützen können. Hier werden, wie schon erwähnt,
Hygiene Maßnahmen erklärt, Kits verteilt, aber auch Aqua Tap um das Wasser zu
reinigen.
Nicht das Männer nicht eingeladen wären, es ist bloß so,
sagt eine Frau lachend, das die Männer sich nicht so sehr dafür interessieren
zu scheinen. Pro Familie wurde eine Latrine gebaut.
Glücklicherweise haben diese ganzen Clubs dazu geführt, dass
es zu fast keinen Cholera Fällen in der Region Léogâne kam. Das ist wirklich
ein großer Erfolg, wenn man bedenkt, dass vor der Gründung dieser ganzen WASH
Programme die Menschen mit demselben Wasser gekocht und gewaschen haben.
CARE/Evelyn Hockstein
CARE/Evelyn Hockstein
Autofahrten und die
Musik
Ich sitze vorne neben Khassim unserem Fahrer. Wir verstehen
uns ohne große Worte. Mein Französisch ist ziemlich armselig und sein Englisch
leider auch. Das heißt wir reden
mit Händen und Füssen. Ein bisschen Creole, ein bisschen Französisch und ein
bisschen Englisch. Aber irgendwie geht es.
Khassim hört Radio und glaubt mir, ich würde was um diese
Radiosender geben in Deutschland. Hier läuft keine dämliche Werbung und kein
anderer Blödsinn im Radio – nein hier läuft einzig und allein Musik!
Wir mögen dieselbe Musik und so erzählt er mir von den
verschiedenen Musikstilen. Rara, Voodoo Musik, Reggea, Ragga Muffin und viele
andere Musikzweige, die ich mir nicht alle merken konnte. Die Haitianer sind
sehr stolz auf ihre Kultur. Musik ist eine universelle Sprache. Immer wieder
wird ‚Haiti’ gesungen. Khassim erklärt mir, wovon gerade gesprochen wird und es
scheint, als haben die Haitianer in der Musik die Möglichkeit zu verarbeiten,
zu verstehen. Die Musik erzählt von den Armen, vom Volk. Sie ist die Stimme des
Volkes. Sie ist reich und sie erzählt Geschichten. Die Haitianer tanzen viel,
sagt Khassim und man hat die Möglichkeit ein bisschen ‚zu verschwinden’ aus dem
Alltag.
Donnerstag, 3. Mai 2012
Dritter Tag. 12.04.2012
Kleinspargruppen.
Was ist bitte eine „Kleinspargruppe“?
Es gibt mittlerweile 12 dieser Gruppen, mit jeweils 30
Mitgliedern und die Frauen lieben es. Die Kleinspargruppen sind von CARE
Deutschland ins Leben gerufen worden und sie haben sich aus den „Mutterclubs“
gebildet. Auch hier haben sich die Frauen zusammen getan, weil es Ihnen die
Möglichkeit gibt unabhängig zu werden und sich ebenfalls finanziell in die
Familie mit einzubringen.
An diesem Morgen kommen wir in Miton zusammen – das liegt
zwischen Gressier und Léogâne– dort treffen sich an einer schattigen Lichtung,
eine feste Gruppe Frauen. Eben eine dieser Kleinspargruppen. Einmal
wöchentlich, kommen sie mit Ihren Sparbüchern zusammen und bringen sich Ihre
Stühle selber mit und als wir ankommen, werden wir offen und herzlich
empfangen.
Auch hier wird zur Einstimmung gesungen. Eine Art
Affirmation, so erscheint es mir. Das Gesungene besagt soviel wie: Wir sind
stark und wir sind nicht arm, wir sorgen für uns.
Abschließend wird noch gebetet und erst dann geht’s ins
Eingemachte.
Der Sinn dieser Gruppen ist es Micro Kredite zu vergeben und
sie basiert auf einem System, das die Menschen hier nicht abhängig, sondern im
Gegenteil unabhängig macht.
Jede Woche kommen die Damen mit Ihrem Sparbuch zur Sitzung,
hier wird vermerkt wie viel sie jeweils angespart und eingezahlt haben. Bisher hat diese Gruppe 200 Gourdes
angespart, was etwa 50 US Dollar entspricht.
Eine Zirkulation dauert insgesamt 12 Monate. Pro Woche muss
jede Frau mindestens eine Einheit (50 Gourdes = ca. 1 US Dollar) einbringen.
Man kann bis zu 5 Einheiten pro Woche einzahlen, sprich 250 Gourdes. Wenn man
einen Kredit nimmt innerhalb der Gruppe, kann man immer das Dreifache der
Einheiten leihen, die man eingezahlt hat. In der letzten Runde, so beschreibt
mir das eine Frau, hatten sie am Ende 1500 Gourdes gespart. Der Gewinn wird am
Ende eines 12monatigen Zyklus durch alle Frauen gleichermaßen geteilt.
Nach dem alle nach vorne aufgerufen wurden und mit ihren
Sparbüchern in der Hand ihre Einzahlung tätigen, habe ich im Anschluss die
Möglichkeit mit zwei Frauen persönlich zu sprechen. Sie erzählen mir, von Ihren
Wünschen und davon was sie sich im Anschluss alles davon kaufen wollen. Die
Eine möchte gerne irgendwann eine Boutique eröffnen und Kleider verkaufen, die
sie selber schneidern möchte. Von Ihrem Geld möchte sie also in erster Linie
Stoffe kaufen. Die andere möchte einen Marktstand mit Obst, Gemüse und Spagetti haben und spart darauf hin. Generell
geht es den Frauen vor allem um Nahrungsmittel: Mais, Reis, Obst und Gemüse.
Sie kaufen es und verkaufen es dann mit einer kleinen Gewinnspanne.
Was auch toll ist, ist das die Gruppe immer 200 Gourdes für
Notfälle zurück hält und zum Beispiel wenn jemand krank ist und Medizin
benötigt, diese Gelder frei gibt.
Sie wünschen sich das diese Kleinspargruppen weiter bestehen
bleiben und es macht sie glücklich, das sie sich finanziell in die Familien
einbringen und auch in der Lage sind ihre Kinder selber zu versorgen.
Gruppe gegen Gewalt – Lutte contre la Violence.
Wir ziehen weiter. Die karibische Hitze lässt selbst die
Klimaanlage im Auto vor Mühe krächzen. Angekommen in Laferonay erwartet und ein
Gemeindehaus das CARE hier erbaut hat. Es steht mitten auf einem Feld. Eine Kuh
mit Ihren Jungen grast faul vor der Tür.
Diese Center sind eng verbunden mit den Health Centern. Nach
dem Erdbeben ist es zu viel häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen in den
Camps gekommen. Viele Mütter sind Opfer des Erdbebens geworden, waren/sind
obdachlos und oft alleine mit Ihren Kindern in den provisorischen Zelten. Die
Frauen fühlen und sind! in ihren Zelten nicht sicher und es gibt zahlreiche
Fälle von Gewalt gegen Kinder und Frauen. Als Gegenmaßnahme wurde das „Centre
contra la Violance“ ins Leben gerufen, das sehr eng mit den Health Centern in
Carrefour und Léogâne zusammen arbeitet.
Es gibt zwei wesentliche Pfeiler: Entwicklungsarbeit und
Nothilfe.
-Nothilfe:
Wenn hier von Notfällen berichtet
wird (das seltener vom Opfer direkt passiert, als durch die Nachbarschaft) so werden die betreffenden Kinder und
Frauen versorgt und ggf. in die Health Center oder ins Krankenhaus gebracht.
-Entwicklungshilfe
ist langfristiger und eng verknüpft mit der Veränderung der Frauenrolle im Land
und in der Familie. Außerdem wird HIV Vorsorge betrieben, Kondome verteilt,
Aufklärungsarbeit etc. pp
Nach dem Erdbeben herrschte nicht nur der absolute Notstand,
sondern es war und ist immer noch, für die Menschen hier emotional kaum zu
verkraften. Daraus haben sich auch ein hohes Gewaltpotenzial entwickelt.
Die CARE Mitarbeiter wurden selber erst einmal ausgebildet.
Sowohl psychologisch als auch mental mit all diesen Umständen umzugehen. Wie
geht man mit einem Kind um? Einem Opfer? Wie geht man mit den Tätern um? Wie
weit darf man sich einmischen? Wie
gewinne ich das Vertrauen?
Eine Maßnahme wurde gleich ergriffen:
CARE/Evelyn Hockstein
In den zahlreichen
Lagern wurden Security Frauen und Männer eingestellt, die immer zu zweit
schichtweise die Nachtwache in den Lagern halten. Das war in den ersten 10 Monaten nach dem Erdbeben so.
Dann Begann die Rehabilitationsphase. Es gab dann Trainings
in den einzelnen Gruppen (Shelter Gruppen und WASH Gruppen), so das alle
Verantwortung üben und sich um die Sicherheit bemühen. Es wurden dann auch
Leute in Gesundheitswesen und Sanitären Diensten ausgebildet, so dass immer
Ansprechpartner und Fachkräfte in den Camps zu Verfügung stehen.
Wie ich schon sagte, viele, viele Frauen wurden in den Camps
vergewaltigt und selten reden Sie darüber. Sie fürchten sich zu sehr und die
Scham ist zu groß und auch in den Gruppen haben sie nicht darüber gesprochen.
Nicht nur Gruppensitzungen wurden mehrfach im Monat angeboten, sondern auch
Einzelsitzungen (1 to 1 Sitzungen) die auch sehr viel Erleichterung gebracht
haben und den Opfern geholfen haben, darüber in einem geschützten Raum zu
sprechen.
CARE/Evelyn Hockstein
Daher wurden besonders Frauen gefördert im Security Dienst
und außerdem wurde veranlasst, das die Poilzei mehr weibliche Kräfte einstellt.
Aber es geht nicht nur um Vergewaltigung, sondern alle Arten von häuslicher
Gewalt. Kann man sich das vorstellen? In Haiti ist zwar Vergewaltigung ein
Strafdelikt, allerdings gibt es keinerlei Gesetze über andere häuslichen
Gewalttaten...
Die Security Frauen bei Ihrem Gang durch eines der Camps
- CARE/Evelyn Hockstein
Ich bin ganz still während heute einige der Security
Mitarbeiten von CARE ihre Erfahrungen mit uns teilen.
Casseque ein Security Mitarbeiter berichtet:
„Das Leben in den Camps ist sehr schwer. Gesundheit ist ein
schwieriges Thema, auch durch die anhaltende Regenzeit, wo alles voller Matsch
ist.“
Eine Krankenschwester erzählt:
„Frauen an denen Gewalt verübt wurde, leiden nicht nur an
körperlichen Beschwerden, sondern auch an der Scham. Die ganz jungen Frauen und
Mädchen, gehen nicht mehr in die Schule, weil sie Angst haben, dass es jemand
raus finden könnte. Wir können sehen, das diese Arbeit hier phantastische
Ergebnisse bringt und wirklich vielen Hilfe leistet.“
Madame Marie-Martie, eine Frau aus dem Security Team
berichtet:
„ Meine Aufgabe
ist es mit den Leuten zu sprechen und präsent in den Camps zu sein.
Einmal habe ich von einer Frau in dem Camp erfahren, die
regelmäßig von ihrem Mann geschlagen wurde. Erst einmal habe ich mit der Frau geredet und irgendwann
auch mit ihrem Mann. Oft sind sich die Männer nicht darüber bewusst, das sie
was Falsches tun und sind selbst so groß gezogen worden. Ich habe immer wieder
mit ihm gesprochen und er hat sein Verhalten geändert. Es ist nicht mein
Verdienst, das sich das Paar nun wieder gut versteht, es war das Paar selbst
das sich geholfen und gelernt hat.“
Yverose, auch aus dem Security Team, erzählt:
„ Ich danke dem lieben Gott und CARE für dieses Training. Am
Ende des Tages ist es unsere Verantwortung und nicht die von CARE. Ich hoffe,
das wir alle noch viel miteinander und voneinander lernen werden.“
Weiter berichtet Sie von einem Fall aus dem Camp:
„Ein 14 Jähriges Mädchen wurde in zwei Nächten
hintereinander in dem Camp von einem 50 Jährigen und einem 32 Jährigen Mann
vergewaltigt. Sie hat nichts – aus Angst und weil Sie von dem Männern bedroht
wurde – zu Ihrer Mutter gesagt. Als das Mädchen am zweiten Abend wieder sehr
spät nach Hause kam, wurde die Mutter wütend und dann hat ihre Tochter ihr
erzählt was passiert ist. Das Mädchen wurde von CARE gleich ins Krankenhaus
gebracht und die Polizei wurde verständigt. Die beiden Männer sind seither
verschwunden und aus Angst vor deren Familien ist das Mädchen mit Ihrer Mutter
auch in ein anderes Camp gezogen.“
Die Security Frauen bei Ihrem Gang durch eines der Camps
- CARE/Evelyn Hockstein
Als ich das höre kann ich kaum an mich halten. Ich kann
wirklich sehen wie wichtig den Menschen hier diese Gruppen sind und wie
wertvoll deren Arbeit. Gemeinschaft ist alles was zählt. Es tut Ihnen gut
Aufgaben zu bekommen und sich gegenseitig zu helfen.
Auf den Strassen in
PaP
Auf den Strassen durch Port au Prince komme ich aus dem
schauen gar nicht mehr raus. Draußen ein reges Treiben, viele Menschen die alle
– so scheint es – durcheinander laufen. Marktstände säumen die Strassen. Ich
hatte es mir gar nicht so hügelig vorgestellt, aber tatsächlich bieten die
Serpentinen Strassen hier viel
Gelegenheit über die Stadt zu blicken. Immer noch viel Zerstörung. Viele Camps.
Alles wird auf die Häuserfronten gemalt. So zum Beispielt
Werbung vom Bier bis zum Café oder Schriftzüge zu Kindergärten, Schulen und
Restaurants. Es ist sehr bunt und farbenfroh und hat einen sehr eigenen Charme.
Oft entdecke ich das kreolische Graffiti „Pas jete Fatra“,
was soviel heißt wie ‚Haltet Euer Viertel sauber’. Das ist es nämlich was man
auch viel sieht: Müllberge, überfüllte Container, Müll auf der Strasse.
Dann fahren wir durch ein anderes Viertel und dort findet
sich das Graffiti ‚BPC’. Das ist, so erklärt uns Khassim, ein Musiker Viertel
und BPC ist deren Code. Sowas wie West Coast und East Coast.
Hier kann man auch eine Strasse finden, wenn man aus PaP
raus fährt, wo Kunst auf der Strasse verkauft wird. Schöne, farbenfrohe Bilder.
Treffen mit den
Voodoo Priestern
Voodoo Puppen, Knochen, Hühnerköpfe und in Trance tanzende, bemalte,
wilde Männer die schwarze Magie betreiben. Das ist so ungefähr das allgemeine
Bild von Voodoo.
Alles Quatsch. Das dachte ich mir schon, oder viel mehr
hoffte ich das und begab mich auf die Suche. Ich fragte Leute nach Voodoo und
kassierte sonderbare und leicht beängstigte Blicke. ‚Was will denn die blonde
Schauspielerin jetzt mit Voodoo???’ War in etwa der Subtext, dieser Reaktionen.
In Haiti gibt es zwei ausgeprägte Glaubensrichtungen:
Christentum und eben Voodoo. Manche betreiben auch beides. Das Erste ist offensichtlich,
das Zweite passiert, wie ich schnell lerne, hinter verschlossenen Türen. Hier redet man nicht so offen über
Voodoo, das hatte ich dann schnell verstanden.
Gerade eine Woche bevor ich nach Haiti kam, war hier
anlässlich Ostern ein großes Straßenfest. Diese Voodoo Feste haben aber eher
einen folkloristischen Charakter. Viel Musik und Tanz. Das habe ich leider
nicht mehr miterlebt.
Aber dann ergab sich, durch unseren Übersetzer Phillip, doch
noch die Möglichkeit Voodoo Priester kennen zu lernen. Ein paar Telefonate
später hatten wir – Evelyn unsere Fotografin, Monika und Christine zwei
Journalistinnen aus Deutschland und ich- einen Termin bei einem Voodoo Priester
Paar. Der Weg dorthin war eigentlich das Unheimlichste. Plötzlich, hielt Khassim und machte uns verständlich, dass wir
nun da seien und aussteigen sollten. Dort war nur eine kleine stockfinstere
Gasse zu sehen und am Ende der Gasse stand eine große Gestalt. Dort hockten
auch eine Gruppe Menschen und irgendwie war uns allen mulmig. Was die Phantasie
so alles an Schabernack mit einem treibt. Herrlich. Die innere Unruhe war mit
der überaus herzlichen Begrüßung schon wieder passé. Théodore ist riesig, hat
tatsächlich die längsten Dreadlocks die ich je gesehen habe und eine
Herzlichkeit die so ehrlich und unverblümt ist, das ich mich gleich für alle
Phantasiebilder von bösen, wilden Voodoo Magiern innerlich beschämt. Manze
seine Frau, ebenso herzlich, erwartete uns in ihrem Haus. Ein sehr schöner Ort.
Sehr heimisch, mit einem großen Kreisrunden Steinaltar mitten im Wohnzimmer.
Wir kommen schnell ins Gespräch und die Beiden erzählen ein
bisschen von ihrem Leben. Gleich werden alle Vorurteile aus dem Weg geschafft.
Manze lacht müde, als eine von uns nach Voodoo Puppen fragt. Sie selber, sagt sie,
habe noch nie solche komischen Puppen gesehen. Voodoo, erklären uns die Beiden,
ist ein tiefer, alter Glaube in Haiti und unterscheidet sich wesentlich vom
Voodoo Glauben in Afrika oder New Orleans. Die Götter des Voodoo hierzulande
sind christliche Figuren: Maria, Jesus und Johannes der Täufer. Sie tragen
dennoch andere Namen. Diese Figuren sind auch an dem Voodoo Tempel gemalt den
ich im Vorbeifahren in Léogâne gesehen hatte. (Im übrigen war der Tempel dort
das einzige Gebäude überhaupt, das dass Erdbeben überstanden hat!!!)
Es ist eigentlich kein Glaube, sondern eine Lebenshaltung.
Im Voodoo glaubt man, dass alles eine Seele trägt, man auf verschiedenen Ebenen
sein und existieren kann und auch mit diesem Ebenen und Wesenheiten in Kontakt
treten kann. Manze und Théodore
erzählen, dass sie täglich meditieren und auch mit der Natur
kommunizieren. Sie sagen, dass die Natur in Haiti sehr angeschlagen ist. Der
einst wunderbare Waldflächen, wurde abgerodet und zwar komplett, da in Haiti mit
Holz statt Kohle geheizt wird...
Wie auch bei uns, zur Zeiten der Hexenverbrennung, wurde der
Voodoo Glaube ausgemerzt und zu etwas Bösem gemacht, was er eigentlich nie war.
Wenn man Voodoo verstehen möchte und auch die Furcht die auch unter Haitianern
herrscht, muss man sehr weit zurück blicken. Und Voodoo ist keine Schwarzmagie,
jedoch mag es auch Schwarzmagier geben. Aber ich bin sicher, die gibt es auch
in Deutschland... fragt sich nur WER sind die Schwarzmagier...? (Aber ich
möchte dieser Stelle meine religiösen bzw. Weltansichten mal außen vor lassen.)
Was sie über das Erdbeben denken, fragen wir noch? Sie
erinnern sich daran, das eine Freundin von Ihnen eine plötzliche Eingebung hatte kurz bevor das Unglück passierte.
In dieser sagte sie zu Manze und Théodore , sie sollen ein Ritual auf dem Platz
in ihrem Viertel machen und die Nachbarn dazu einladen. Es würde etwas
Schreckliches passieren und so könnten sie sich schützen. Das taten sie dann
auch und tatsächlich kamen alle Nachbarn, obgleich sich hier keiner zum Voodoo
bekennt und es, wie gesagt, keine öffentliche Angelegenheit ist. Die Beiden
waren selbst etwas überrascht darüber und machten zum Wohle Aller ein Ritual
und beteten gemeinsam. In diesem Viertel ist nichts passiert und auch Niemandem
aus der Nachbarschaft. Nach dem Unglück wuchs die Offenheit gegenüber Manze und
Théodore unter ihren Nachbarn, die Tür steht stets offen und manchmal kommen
Menschen vorbei und bitten um Rat.
Hier ist eine große Ruhe und Stille und ich fühle mich sehr
wohl. Eigentlich würde ich gerne länger bleiben und ihnen noch viele Fragen
stellen, aber es ist spät geworden.
Als wir zurück fahren, mit einer CD von Boukman Eksperyans
im Gepäck, denn was ich noch nicht erwähnte, ist das Manze und Théodore sehr
berühmte Voodoo Musiker sind und zig Alben raus gebracht habe, ist mir warm und ich bin erleichtert,
das ich nur gute Geister J
getroffen habe. Weise Menschen mit viel Herz.
Manze in ihrem Haus - CARE/Evelyn Hockstein
Theodore, Manze und Ihre Tochter zu Hause - CARE/Evelyn Hockstein
Mittwoch, 2. Mai 2012
Vierter Tag 13.04.2012
Die Kathedrale und
Präsidenten Palast in PaP
An diesem Morgen besuchen wir ein paar Viertel in PaP und
Sabine Wilke ist sehr glücklich zu sehen, das vor dem Präsidenten Palast, das
riesige Zeltlager geräumt wurde. Das die Strassen wieder frei sind. ‚Hier war
alles voll mit Zelten’ sagt Sie und deutet über den Platz, der an einen Park
grenzt – den größten in PaP.
Der Präsidenten Palast
Gegenüber ragt der zerstörte und in sich zusammengesackte
Präsidenten Palast. Kaum vorstellbar, das so ein riesiges Gebäude einstürzt wie
ein Papphaus. Der Anblick ist zerstörend.
Wir fahren weiter zur Kathedrale, die einmal wunderschön
gewesen sein muss. Das deuten die Fassaden noch an. Ein Tag nach dem Beben, so
erinnert sich Sabine, sei hier eine Messe abgehalten worden. Obwohl ich nicht
Katholisch bin und ich keinen sonderlichen Bezug zu Kirchen habe, erschüttert mich dieses Bild ganz tief in
mir drin. Eine Frau läuft auf mich zu und bettelt mich um ein paar Gourdes an
und streckt mir Ihr Baby entgegen. Aber ich darf/kann/soll nichts geben. Ich bin
hier als Eine von CARE und logischerweise kann man als Hilfsorganisation keinen
Leuten mal eben so Geld zu stecken. Das bringt auf lange Sicht auch nichts.
Aber dennoch, alles in mir drin will und möchte und ich denke darüber nach was
diese paar Gourdes für die Frau bedeuten würden und was sie für mich bedeuten.
Wir reden hier über nicht einmal einen Euro.
Man deutet mir einzusteigen und ich kann nicht mehr an mich
halten. Ich schäme mich für mein Weinen und ich ärgere mich über meine
Hilflosigkeit.
Die Kathedrale in PaP
Ich hatte mir vorgenommen sehr aufmerksam mir selbst
gegenüber zu sein auf dieser Reise und sehr bewusst damit umzugehen, wie ich
mich verhalte und welche Gefühle ich ausstrahle. Ich möchte hier keine
Mitleidbekundungen tun. Das hilft den Menschen wirklich nicht weiter. Es gibt
einen sehr großen Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl, das sehr wohl
SEHR angebracht ist. Die Angst begleitet mich, das in meiner Miene so was wie
Mitleidbekundungen und Distanz steckt, oder so verstanden werden könnte. So denke
ich nicht und so fühle ich auch nicht. Aber es macht mich so wütend - dieses
Ungleichgewicht zwischen den Welten. Dennoch dieses Bild der Kathedrale und die Frau mit Ihrem
Baby hauen mich um und so blicke ich aus dem Fenster und denke unwillkürlich
darüber nach was eigentlich wichtig ist im Leben? Was WIRKLICH wichtig ist im
Leben und plötzlich erscheinen mir sehr viele Dinge und ‚Probleme’ aus meinem
Leben in Deutschland sehr banal.
Carrefour – Der
Wiederaufbau
Weiter geht es nach Carrefour, das ist ein Stadtteil von PaP
und einer der Brennpunkte. Nicht das es schon vor dem Beben zu den absoluten
Armutsvierteln gehört hat, nein, das Beben hat wirklich kaum noch einen Stein
auf dem anderen stehen lassen.
Im Vorbeifahren erklärt mir Sabine das die Häuser hier von
der Baubehörde untersucht und allesamt markiert wurden. Grün heißt, es ist noch
bewohnbar, gelb das es wieder aufgebaut werden kann und rot, das es absolut
nicht mehr bewohnbar ist.
Außerdem haben Teile von Carrefour noch ein anderes Problem:
Hier gibt es keine intakte Abwasserversorgung und in der Regenzeit steht hier
fast alles unter Wasser...
Sabine Wilke und ich in Carrefour
Sabine Wilke und ich in Carrefour
Die Zerstörung ist überall zu sehen. Kaum zu Glauben, das es
schon weit über zwei Jahre zurück liegt. Ein Ausblick über die Stadt. Dahinter
liegt das funkelnde, türkise Meer – ein Ausblick, der einer Urlaubsbroschüre
entsprungen sein könnte. Davor allerdings, ein Blick über Bauruinen,
Baustellen, Schuttberge und Übergangshäuser.
Eine große Anzahl von Menschen ist seit dem Erdbeben wieder
in Übergangshäusern oder aber, hat zusammen mit CARE die Möglichkeit ihr Haus
wieder aufzubauen. Diesmal aber Erdbebenresistent. Weil das was hier noch rum
steht, will man so gar nicht wieder aufbauen. Bei dem nächsten Beben, würde
alles wieder in sich zusammen fallen. Der Hauptgrund für diese Verwüstung sind
schlechte und bröselige Baustoffe, die von dünnen Stahlstangen zusammengehalten
wurden. Man muss kein Baufachmann sein um zu erkennen, dass diese Häuser keinem
Beben stand halten würden.
Diese sogenannten ’Shelter’ Programmes beinhalten:
Übergangshäuser errichten, Häuser wieder aufbauen und ganz neue Häuser bauen.
Das ist ein sehr langwieriges Projekt, weil erst einmal zwischen all den Ruinen
und Schutthaufen, wieder Platz geschafft werden muss und die Leute Anleitungen
und Baumaterial von CARE erhalten Ihre Häuser aufzubauen.
Man kann nicht einfach hingehen und irgendwo Häuser
hinbauen. Die ganze Gegend liegt auf einem Berg und es ist auch nicht viel
Platz, da überall noch Bauruinen und Schuttberge stehen.
Dennoch – es hat sich vieles getan und obgleich ich noch nie
hier war, sehe ich doch die kleinen und großen Erfolge. Ich darf einen Blick in
ein Haus werfen, das wieder mit Hilfe von CARE aufgebaut wurde und lerne viel
von Sabines Wissen. Aber schaut selbst!
Übergangshäuser
300.000 Häuser gingen kaputt und wurden untersucht und
markiert, wie ich im Abschnitt vorher schon beschrieben habe. Nicht alle Häuser
kann und will man wieder aufbauen und vieles kostet viel Zeit. Daher mussten standardisierte
Übergangshäuser bereitgestellt werden. Sie sind etwas 20qm Meter groß und haben
ein Fenster. Die Seiten sind aus Plastikwänden, das Dach aus einem robusten
Wellblech. Natürlich keine Traumlösung, aber alles besser als im Camp. Die
Camps sind das absolute Grauen.
Nun kommt die schwierigste Frage: Wie entscheiden die NGO’s
wer Anspruch auf ein solches Haus hat? Schnell hatten sich die Organisationen
abgesprochen, wer welchen Bezirk abdeckt. CARE hat viel in Carrefour und der
Region Léogâne unternommen, wie ich schon vorher berichtet hatte. Wie
entscheidet man wer ein Überganghaus braucht und wer am meisten Anspruch darauf
hat? Das ist eine schwierige Frage, da die Antwort so einfach ist: ALLE! Aber
alle auf einmal ging leider nicht, es waren 1,5 Millionen Obdachlose und so
schnell konnten nicht alle in Übergangshäuser. Daher wurden erst einmal Frauen,
Mütter, Kinder, Alte und Kranke berücksichtigt.
Die Übergangshäuser kranken an Sicherheit, manche sind viel
zu heiß und in der Nacht zu kalt. Auch hier gibt es wirklich verschiedene
Standards. CARE’s Häuser haben zumindest ein Fenster. Ich habe auch Häuser
gesehen, die halb so groß, komplett aus Plastik und ohne ein Fenster sind.
Ich treffe nochmals auf den Direktor der Schule ‚Pyramide’,
als wir die Shelters besichtigen und er hat, gemeinsam mit seiner Mutter, das
Übergangshaus umgebaut. Mittlerweile ist es von Außen mit Zement verkleidet und
hat innen Holzwände. Der ganze Umbau, erzählt er, hat ihn umgerechnet 800
Dollar gekostet. Das ist sehr viel und zwar so viel das kaum ein Haitianer, in
Notlage dieses Geld aufbringen kann. Manche haben auch an ihre Übergangshäuser
‚angebaut’ und nun eine kleine Terrasse oder einen Schuppen angrenzen lassen.
So hat es gar nichts mehr von einem improvisierten zu Hause, sondern wirkt
beinahe sehr heimisch.
Ein kleines Mädchen vor ihrem Übergangshaus
Ich spreche mit einer jungen Frau – die mir später auch noch
Nachhilfe im Dreadlock drehen gibt – und die mit ihren acht Geschwistern und
ihrer Mutter in einem Übergangshaus lebt. Sie ist sehr scheu und es dauert ein
bisschen, auch bedingt durch die Sprachbarriere mit ihr warm zu werden. Das
Haus ist nicht sicher. Hier kann jeder einfach das Plastik durchschneiden und
in unser Haus eindringen, berichtet sie.
Ich frage Sie, ob hier vorher ihr richtiges Haus gestanden
habe und sie bejaht. Als ich ihr am Ende unseres Gesprächs viel Glück wünsche
und ihr wünsche, das sie bald wieder ihr richtiges Haus hat, lacht sie nur
leise. Ob ich ihr dabei helfen mag, fragt sie mich.
Nein, sage ich, ich kann Dir nicht helfen, aber ich kann den
Menschen in meinem Land davon berichten, wie es Dir und Euch hier geht und
dafür ein Bewusstsein schaffen, das ihr weiter unsere ganze Kraft und
Unterstützung erhaltet.
Mit einigen Kindern vor ihrem Überganshaus
Mit einigen Kindern vor ihrem Überganshaus
Camps
Nun fahren wir also doch in ein Camp. Ich bin unsicher, weiß
nicht ob es OK ist hier einfach so reinzumarschieren. Aber ich versuche so
ungezwungen und respektvoll wie nur eben möglich zu sein und darf feststellen,
dass die Haitianer die hier immer noch Leben, sehr offen darüber sprechen.
Evelyn, unsere Fotografin läuft vor mir her und begrüßt mit einem wunderbar
amerikanischen ‚Bonjour’ die Kinder die uns entgegen laufen. Von ihr kann ich
noch viel lernen. Sie läuft mit einer Normalität durch Krisengebiete, als würde
sie hier täglich ein und ausgehen.
Der Geruch ist grauenvoll. Alles hier ist grauenvoll. Enge
stickige Gassen. Menschen die vor ihren Zelten sitzen und in einer kleinen
Wanne ihre Wäsche waschen, oder aber auf einem kleinen Brenner was zu essen
kochen. Keine ‚Camp Idylle’ sondern trauriger Alltag.
Überall hocken sie und es riecht nach Schmutz und Dreck. Die
Planen sind nach der Zeit auch schon vom Schmutz gezeichnet und die Regenzeit
macht alles noch schlimmer. Eine Frau erzählt mir, dass sie nachts immer
aufstehen muss, wenn es regnet (und es regnet hier oft Nachts) und das Wasser
aus dem Zelt schaufeln muss, damit ihre Kinder im Trockenen liegen. Die Angst
ist groß, die Hoffnungslosigkeit überall spürbar.
In einem der Camps in Carrefour
Die Menschen hier, haben sich ein wenig Ordnung verschafft
und die Gassen benannt. So stapfe ich gerade als durch die ‚Grand Rue’ (Große
Strasse) und sage einem kleinen Jungen und einem Mädchen in einem Barbie
T-Shirt ‚Hallo’, die mich anstarren und hoffen, ich bringe gute Nachrichten.
Alle sind sehr freundlich.
In den Camps so berichtet mir jemand, haben sich die Banden
auch wieder breit gemacht, die aus dem Gefängnis geflohen sind nach dem
Erdbeben. 7500 Inhaftierte haben, als das Gefängnis zusammen stürzte, ihren Weg
in die Stadt gefunden und ‚regieren’ die Camps.
Im übrigen, um hier mal gleich einen Irrglauben zu nehmen:
Es gibt keine Unicef Camps, CARE Camps, Oxfam Camps oder Samarita Camps. Es
gibt ein Sean Penn Camp, das stimmt, aber auch hier haben andere mitgeholfen.
Also soviel zu unserem/meinem Irrglauben. Die NGO’s arbeiten hier Hand in Hand.
Einer bringt die Planen, der nächste kümmert sich um die Wasserversorgung und
der nächste wiederum um die medizinische Versorgung.
Ich spreche mit einer Frau die seit dem Beben hier mit ihren
Kindern lebt. Sie glaubt nicht, dass sie jemals hier wieder rauskommt. Was kann
man da sagen? Ich wünsche ihr viel Glück und bin sicher, dass auch ihr bald
geholfen wird.
In einem der Camps in Carrefour
Das Camp von aussen.
Das Treffen mit Gary
Victor
Das war natürlich aufregend. Nun hatte ich so lange an dem
Hörbuch ‚Der Blutchor’ gesessen und dieses Hörbuch hat mich letztlich auch hier
hin geführt. Bisher kannten Gary und ich uns nur von Fotos und als ich im Hotel Oloffson ankam, war ich tatsächlich
etwas nervös. Gary Victor ist eine große haitianische Persönlichkeit und wirklich
JEDER Haitianer kennt ihn. Neben dem das er zahlreiche Bücher geschrieben hat
und einer der führenden haitianischen
Autoren ist, machten ihn auch seine Journalistischen Arbeiten landesweit
bekannt. Für seine kritische Haltung der Politik gegenüber, wird er zwar vom
Volk geschätzt allerdings nicht von denen die dieses Land vermeintlich
‚führen’.
Als er reinkommt gibt es keine Berührungsängste. Keine
komischen, unangenehmen Pausen. Eine herzliche Umarmung. Ein Treffen, das mich
sehr erfreut und offensichtlich Gary auch.
Sabine übersetzt das Gespräch mit ihm, denn ich verstehe
mittlerweile wieder das meiste in Französisch, aber leider spreche ich viel zu
wenig, um ein inhaltsvolles Gespräch zu führen. Mit Garys Englisch steht es
ähnlich.
Ich habe ihn heute regelrecht Löcher in den Bauch gefragt.
Aber auch er hatte viele Fragen.
Sehr bald kommen wir auf die Umstände zu sprechen. Er
spricht es an und möchte wissen, wie es mir geht, wenn ich hier in Haiti
rumfahre und all diese verstörenden Dinge sehe.
Als ich entgegne das es mich sehr mitnimmt und das ich sehr
traurig bin das alles zu sehen und so vieles davon nicht zu begreifen, nickt er
nur und meint, das er tagtäglich sehr traurig und geschockt sei über die Lage.
Wieder fällt der Satz den ich so oft in den letzten Tage
gehört habe: ‚Um Haiti zu verstehen, muss man sehr weit in der Geschichte
zurückgehen. Haiti hat eine sehr komplexe Geschichte’
Weiter sagt er, das Haiti keinen Staat habe, das es keine
Führung gäbe die irgendwas Sinnvolles machen würde. Gleichzeitig steht er dem
neuen Präsidenten sehr wohlwollend gegenüber. Michel Martelly ist ein sehr
bekannter Musiker und neuer Präsident von Haiti. Nur habe er kein Parlament das
für ihn stimme und somit sind ihm, trotz aller guten Vorsätze, die Hände
gebunden.
Gary trinkt lächelnd seine Seven up, während er bestätigt,
dass die Politiker seine Artikel nicht so sehr zu schätzen wüssten.
Ob er jemals darüber nachgedacht hätte, das Land zu
verlassen und nach Amerika oder Europa zu ziehen, möchte ich wissen? Nein, habe
er nie, sagt er, ohne lange darüber nachdenken zu müssen. Er wäre durch und
durch ‚Caribean’, er könne sich wohlmöglich vorstellen in einem anderen
karibischen Land zu leben, aber niemals ganz woanders. Zu sehr sei er
verwurzelt mit Kultur und Musik, mit den Menschen und der karibischen Seele.
Dann erzählt mir Gary von dem Tag des Bebens. Er war bei
seiner Mutter an diesem Tag. Die Erde schrie, sagt er, ein schreckliches
quietschendes Geräusch. Er war in Panik und krabbelte auf allen Vieren aus dem
Haus heraus, gemeinsam mit seiner Mutter. Die Wände, erinnert sich Gary,
wankten wie Blätter im Wind. Das war sehr erschreckend und seine Mutter blieb
ruhig während er voller Panik war. Das Haus wurde nicht beschädigt. Als das
große, erste Beben vorbei war, brachen alle Handynetze ab. Niemanden konnten
man mehr erreichen, auch nicht auf dem Festnetz. Man konnte auch nicht mit dem
Auto irgendwo hin fahren, da alle Straßen von Schutt voll waren. Es war alles
in Nebelstaub getaucht. Gary bekam keine Verbindung zu seinen Kindern. Er
rannte los und lief sechs Stunden durch die Stadt, es wurde Abend darüber. Er
erinnert sich daran, das er diese sechs Stunden seine Kinder für tot geglaubt
hatte. In diesen sechs Stunden hat er Bilder gesehen, die ihn bis heute
verfolgen. Als er im Finstern, am anderen Ende der Stadt endlich am Haus ankam,
lagen seine Tochter und sein Sohn mit einer Freundin der Mutter im Garten. Die
Mutter hatte sich auch auf die Suche nach wiederum ihrer Mutter gemacht. Seine
Tochter war immer noch am zittern und war völlig traumatisiert. Aller schliefen
in ihren Gärten mehrere Tage lang, weil alle soviel Angst vor einem weiteren
Beben hatte, erinnert sich Gary.
Seit dem hat sich das Verhältnis zu seinen Kindern, zu
seiner Frau und auch zu seiner Exfrau sehr stark verändert und ist sehr viel
inniger geworden. Die Dinge die man wertschätzt und die Prioritäten verändern
sich schlagartig.
Auch sein Schreiben habe sich verändert, er würde weniger
intellektuell schreiben, dafür mehr vom Herzen. Es habe sein Leben sehr
beeinflusst. Sein Verleger rät ihm, dass er ein Buch über diese sechs Stunden
schreibt, die er durch die Stadt gelaufen ist und dachte, dass seine Kinder tot
seien. Aber er kann das noch nicht. Zu nah sei das noch alles.
Eine Schule, an der er vorbei lief und die er zuvor in einem
seiner journalistischen Artikel kritisiert hatte, wegen schlechter und
dilettantischer Bauweise, war eingestürzt. Bis ins letzte Stockwerk. Man hat
gleich gesehen, dass es falsch gebaut sei, sagt Gary. Alle Kinder seien ums
Leben gekommen, niemand habe es mehr aus dem Gebäude geschafft.
Gary Victor und ich
Dann reden wir aber auch über meine Heimat und über Berlin.
Gary war ein paar Jahre vor dem Mauerfall als Journalist in Ostberlin und
erinnert sich noch gut an die Tristesse und an all die grauen Farben und die
Strenge die er spürte. Ob es immer noch so sei? Nein, sage ich lachend. Wir
Deutschen haben uns alle Mühe gegeben unsere eigene Geschichte auszuradieren
und bis in die Unerkenntlichkeit zu verändern.
Gary und ich tauschen Ideen aus zu kulturellen Projekten mit
und in Haiti und haben fest vor noch ein ganz konkretes Projekt umzusetzen.
Aber das ist noch zu früh zum erzählen!
Nach vielen herzlichen Umarmungen und einigen Fotos,
verabschieden wir uns und wünschen einander weiterhin viel Erfolg.
Wie froh ich bin, das ich Gary treffen konnte. Es war ein wahnsinnig
spannendes Gespräch und ich hoffe, dass noch viele Menschen mit dem Erlös des
Hörbuchs CARE in Haiti unterstützen. Hier der direkt Link zu Amazon:‚Der Blutchor – Künstler lesen für Haiti. Von Gary Victor.